Mit großer Ungeduld und Spannung hat der Handel die schrittweise Öffnung der Handelsflächen erwartet. Die zurückhaltende Reaktion der Konsumenten führt uns jedoch vor Augen, dass wir nicht (so schnell) wieder in den Normalzustand zurückkehren werden. Mehrere Gründe tragen dazu bei, dass ein unbelastetes Einkaufen im stationären Handel noch einige Zeit nur bedingt möglich sein wird:
- Angst vor einer Infektion: Die potenziellen Gefahrenquellen der Infektion sind allgegenwärtig. Ob dies der Türgriff, die Produktoberflächen (z.B. Pullover, Buchcover), das unvorsichtige Verhalten anderer Kunden (z.B. Gedränge, Niesen) oder das Rückgeld sind – ein Unwohlsein begleitet die Kunden (in unterschiedlicher Ausprägung) beim Einkaufen.
- Gefahrensymbole: Nicht nur der Mundschutz, sondern auch provisorische Absperrbänder, die eher an eine Baustelle erinnern, omnipräsente (handschriftliche) Gebotsplakate im Verkaufsraum oder die Korbpflicht erinnern den Kunden immer wieder daran, dass eine unsichtbare Gefahr (beim Einkaufen) lauert. Die Konsumlust – und auch die Anzahl der Anlaufstellen – wird dadurch erheblich reduziert.
- Beschnittene Kaufkraft: Die Kurzarbeit sichert zwar für viele Arbeitnehmer den Arbeitsplatz, sorgt aber auch dafür, dass bis zu 33% des Nettogehalts fehlen. Je nach Verpflichtungen, kann dies zu Existenzsorgen oder zumindest zu Unbehagen führen.
- Unsichere Zukunft: Die Politik fährt auf Sicht, die Unternehmen agieren im Krisenmodus und in den Medien ist die Pandemie omnipräsent. Natürlich färbt diese Krisentonalität auch auf die eigene Stimmung ab. Die Menschen halten ihr Geld zusammen, weil sie verunsichert sind – und weil sie vielleicht in der Krise erkannt haben, dass nicht alles Neue wirklich notwendig ist.
- Soziale Distanz: Aufgrund der deutlich geringeren Kontaktpunkte im sozialen Umfeld verliert das Motiv der Selbstdarstellung an Bedeutung. Die Gelegenheiten zur Präsentation der Sommermode oder des Premium-Wein sind eingeschränkt worden und damit auch der Kaufanreiz. Bei einer Online-Konferenz genügt auch die alte Jeans.
- Eindämmung der Optionen: Insbesondere die Reisebeschränkung und die Veranstaltungsverbote tragen dazu bei, dass der Bedarf nach neuen Produkten gar nicht aufkommen kann. Ein neuer Koffer oder eine neue Spiegelreflexkamera ist aufgrund der Optionenreduktion nicht mehr zwingend notwendig.
- Warten auf Preisnachlässe: Es ist davon auszugehen, dass die vom Lockdown betroffenen Branchen ihre Lagerüberkapazitäten und die Gunst der Kunden mit Rabatten abbauen bzw. zurückgewinnen wollen. Auch die Ankündigung von Konsumgutscheinen und Autoprämien tragen dazu bei, dass viele Kunden erstmal abwarten.
Diese Gründe führen u.a. dazu, dass ein gezielter, eher rational unterlegter Einkauf an Bedeutung gewinnt und die Grundversorgung im Fokus steht. Ein lustvolles und unbeschwertes Bummeln als Freizeitbeschäftigung ist noch stark eingeschränkt – zumal auch der Kontext fehlt: der gemütliche Kaffee in der Innenstadt oder das spontane Treffen mit Freunden.
Es ist davon auszugehen, dass über die Zeit hinweg ein Gewöhnungseffekt eintreten wird. Aber eines ist sicher: solange die Gefahrensymbole zu sehen und zu hören sind, werden die Konsumenten immer wieder an die Pandemie erinnert, wodurch negative Emotionen bzw. ein Unbehagen erzeugt wird.
Retail und Corona. Bild: Urs Flueeler/KEYSTONE/dpa
Aber müssen die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen automatisch eine Gefahr symbolisieren? Zugegebenermaßen: Die unterschiedlichen Konzepte sind im Krisenmodus entstanden und mussten schnell und pragmatisch umgesetzt werden. D.h. Ästhetik und Akribie konnten nicht immer priorisiert werden. Da wir jedoch noch einige Zeit mit den Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie leben werden, wäre es nun an der Zeit, die Sicherheit und die Kauflust gleichermaßen zu adressieren.
Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis der Ängste und der Bedürfnisse der Kunden. Wie kann ich z.B. die Hygienebedenken beim Anprobieren von Kleidungsstücken adressieren, sodass der Kunde wieder mit Freude die neue Mode erkunden kann? Mit einer regelmäßigen Desinfektion der Umkleidekabine ist es dabei noch lange nicht getan. Erst wenn diese Basisbedürfnisse erfüllt sind und das Unbehagen weicht, kann sich der Mensch wieder den schönen Dingen des Lebens zuwenden. Ansonsten bleibt es beim gezielten Pflichtkauf.
Dafür muss der Handel aber aus dem Notbetriebsmodus wieder in den Wertschöpfungsmodus übergehen. Das bloße Aufrechterhalten des Betriebes reicht nicht mehr aus.
Der Kunde muss stärker den je wieder in den Fokus rücken. Gerade in Zeiten der Verunsicherung liefert eine kundenzentrierte Haltung die richtigen Antworten. Und damit ist nicht das klassische Marketing gemeint («mit welchen Instrumenten kann ich nun den verloren gegangen Umsatz so schnell wie möglich wieder reinholen?») sondern «wie kann ich einen Sog erzeugen?» – vom Push zum Pull. Auf was ist insbesondere zu achten?
- Schaffung von Vertrauen: Als Kunde muss ich das Gefühl bekommen, dass der Händler alle kritischen Kontaktpunkte erkannt sowie bedacht hat und eine Lösung zur Minimierung der Ansteckungsgefahr liefern kann. Hierbei trägt insbesondere eine empathische Nachverfolgung der In-Store-Customer Journey unter Berücksichtigung aller Touchpoints bei. Wer nur ein Desinfektionsmittel im Eingangsbereich hinstellt oder Plexigläser an der Kasse montiert, ist weit davon entfernt, das Unbehagen der Kunden verstanden zu haben. Was vor der Pandemie nur bei sensiblen Kunden ein Thema war, wird jetzt für eine breitere Masse relevant. Zum Beispiel die Hygiene von Oberbekleidung, die im Laden von unzähligen Vorkunden anprobiert wurde. Oder die Mitarbeiterin an der Theke, die mit den Handschuhen sowohl die Frischprodukte anfasst als auch das Bargeld (und alles andere). Und was ist mit den Greifzangen im Brotbereich oder am Frühstücksbuffet der Hotels?
- «Bedenkenlose» Sicherheit: Viele Regeln unterliegen heute der Eigenverantwortung des einzelnen Kunden – so zum Beispiel die Abstandsregel im Verkaufsraum. Der Händler reguliert zwar durch die Einlassbeschränkung die Anzahl Kunden. Wer sorgt aber dafür, dass die Abstandsdisziplin auch auf der Ladenfläche funktioniert? Oftmals ist dies bei den engen Zuschnitten gar nicht möglich – oder unachtsame Kunden scheren sich nicht drum. Die «bedenkenlose» Sicherheit zielt darauf ab, dass die Regeln automatisch eingehalten werden können, ohne dass ich mich als Kunde damit ständig beschäftigen muss – in der einfachsten Version z.B. durch Einbahnregale oder buchbare Besuchsfenster. So kann ich mich als Kunde wieder ganz dem Einkauf widmen. Wenn ich jedoch als Kunde gezwungen werde, nach einem (nicht desinfizierten) Einkaufskorb zu greifen, nur weil die Zählung für den Händler dadurch vereinfacht wird, dann gehört dies sicherlich nicht zur «bedenkenlosen» Sicherheit.
- Erzeugung von Konsumfreude: Markierungen am Boden, Absperrbänder, Mundschutz, Hinweisschilder mit Geboten, Körbchenpflicht – alles Gefahrensymbole, die die Konsumfreude unweigerlich versiegen lassen. Durch eine professionelle und ansprechende Gestaltung dieser Provisorien kann zumindest schon der Baustellencharakter reduziert werden. Sogar die aktuellen Gebote lassen sich in charmanter Art und Weise kommunizieren, sodass eine persönliche Note entsteht. Aber es geht um viel mehr: der Handel muss wieder in den Wertschöpfungsmodus zurückfinden. Das bedeutet, dass das Leistungsversprechen wieder in den Vordergrund rücken muss und eine begehrenswerte Leistung für den Kunden sichtbar wird. Damit sind definitiv nicht wahllose Rabatte oder Willkommensgeschenke gemeint, sondern ein profilierendes Leistungsspektrum, das voll und ganz zu überzeugen vermag.
Was vor der Pandemie schon das A und O für die Attraktivität des stationären Handels war, ist es danach umso mehr. Ein verwässertes Profil ist mit und ohne Pandemie (und mit und ohne Online-Konkurrenz) zum Scheitern verurteilt.
- Schaffung von Nähe: Die Schutzmasken schaffen Distanz. Ein freundliches Lächeln oder ein netter Schwatz fällt fast gänzlich weg – ausgerechnet in einer Zeit, in der Nähe und Gastfreundschaft besonders wichtig wäre. Security-Männer, die die Kunden harsch auf die Sicherheitsmaßnahmen hinweisen, sind hierfür sicher nicht die richtigen Botschafter. Nähe schafft man durch menschliche Sympathie, Solidarität und Kommunikation auf Augenhöhe. Wir sitzen alle im gleichen Boot und müssen das Beste aus der Situation machen. Das geht nur, wenn man sich gegenseitig unterstützt. Und: auch mit den Augen kann man Lächeln.
Mit einem halbierten Umsatz können Filialbetriebe weder Löhne noch Mieten oder die laufenden Rechnungen bezahlen. Mit den aufgelisteten vier Denkfeldern ließe sich zumindest ein wenig Unbefangenheit zurückholen und die Freude am Einkaufen steigern – und damit auch der Warenkorb. Und wer die Potenziale voll ausschöpfen möchte, überarbeitet sein Geschäftsmodell nun ganzheitlich und macht es zukunftsfähig. Mit der Sicherstellung der operativen Exzellenz und dem kundenzentrierten Blick voraus ist (nicht nur jetzt) ein Wettbewerbsvorteil zu erzielen.
Eines ist klar: Mit und nach der Corona-Pandemie gewinnt die Empathie als Differenzierungsfaktor für den Einzelhandel deutlich an Bedeutung. Wer sich in den Kunden hineinversetzen kann und auch danach handelt, wird gestärkt aus der Krise heraustreten.